Als ein Pfarrer 1.600 Kinder rettete

Schnelltaufen, gefälschte Papiere und gefährliche Aktionen in letzter Sekunde: Der ungarische Pfarrer Gabor Sztehlo hat 1.600 jüdische Kinder vor dem Holocaust gerettet, indem er sie in Kinderheimen versteckte. Später gründete er mit einem Teil von ihnen die pädagogische „Republik Gaudiopolis“. Einer von Sztehlos Schützlingen berichtet, wie ihn seine Zeit dort prägte.

Im März 1944 rief der Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Budapest, Sandor Raffay, den jungen Pfarrer Sztehlo zu sich. Der damals 35-jährige Sztehlo wurde beauftragt, Kinder jüdischer Abstammung zu retten und sie in Kinderheimen unterzubringen. Unterstützt wurde Sztehlo vom „Guter Hirte“-Komitee, einem Verein protestantischer Kirchen, dem Roten Kreuz und Schweizer Botschaftern.

Viele kirchlichen Heime waren damals überfüllt – und die Zeit drängte: Im März 1944 marschierten die deutschen Soldaten in Ungarn ein. Mit Unterstützung der faschistischen Pfeilkreuzlerpartei begannen die Deutschen mit der Verfolgung der ungarisch-jüdischen Bevölkerung: Jüdinnen und Juden wurden aus dem öffentlichen Leben verbannt, und ein Großteil der männlichen jüdischen Bevölkerung wurde für Zwangsarbeiten eingezogen – die Frauen und Kinder blieben alleine zurück. Rund 70.000 Jüdinnen und Juden wurden in das Budapester Ghetto gesperrt und mehr als 430.000 in Todeslager deportiert.

Gabor Sztehlo und seine „Republik“ der Kinder

Zunächst versuchte Sztehlo, Verwandte zu überreden, Kinderheime in ihren Villen einzurichten. In seinem Tagebuch „In Gottes Hand“, das 1983 erschien, schilderte der Pfarrer, wie verzweifelte Eltern sein Büro aufsuchten und ihn baten, ihre Kinder vor den Nationalsozialisten in Sicherheit zu bringen.

Gabor Sztehlo 

Schnelltaufen und gefälschte Papiere

Das erste Kinderheim wurde in der Villa in der Berc-Straße auf dem Gellertberg eingerichtet. Ein Cousin Sztehlos stellte die Villa zur Verfügung, und Frauen aus der Jugendgruppe des „Guten Hirten“ erklärten sich bereit, als Erzieherinnen zu arbeiten. In seinen Aufzeichnungen schrieb Sztehlo über die Zeit damals: „Ohne eine Auswahl zu treffen oder groß darüber nachzudenken, nahm ich die Kinder dort auf und übergab sie der Obhut völlig unerfahrener, aber ihnen zugewandter Erzieherinnen.“

Als Schutzmaßnahme wurden Jüdinnen und Juden mit Schnelltaufen zu Mitgliedern der evangelisch-lutherischen Kirche. Pfarrämter stellten gefälschte Papiere und Taufscheine aus, und auch von ausländischen Botschaften kam Unterstützung: Mit der Erstellung von Schutzbriefen gelang es manchmal, ihre Inhaber noch aus den Waggons der Deportationszüge zu retten.

In kürzester Zeit gelang es dem Pfarrer, ein riesiges Netzwerk von Heimen in Budapest zu etablieren. In 32 Unterkünften versteckte Sztehlo rund 1.600 Kinder und 400 Erwachsene. Die Unterkünfte, Wohnungen und Villen lieh er von Bekannten oder erwarb er mit Spendengeldern.

„Gaudiopolis – Stadt der Freude“

Nach Kriegsende im Frühjahr 1945 zog Sztehlo mit mehr als 200 Kindern in das Anwesen einer jüdischen Industriellenfamilie in Zugliget und gründete die Pax-Stiftung. Der Zweite Weltkrieg machte viele Kinder zu Waisen: Die Eltern galten als verschollen oder wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Sztehlo holte viele Kinder von der Straße, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.

Im Heim gründeten die Kinder unter der Leitung des Pfarrers die „Republik Gaudiopolis“ (Stadt der Freude). Ein Staat mit eigener Verfassung, eigener Währung und eigenen Gesetzen.

Andrasi war zwölf Jahre alt, als er im November 1945 im Pax-Heim aufgenommen wurde. Sein Vater, ein jüdischer Arbeitsdienstler, war an der russischen Front gefallen, und die Mutter konnte sich aufgrund einer schweren Krankheit nicht mehr um ihn und seine beiden Geschwister kümmern. An seine erste Begegnung mit Sztehlo kann sich Andrasi nicht mehr erinnern, aber er beschreibt ihn rückblickend als einen „ernsthaften und gleichzeitig auch sehr fröhlichen Menschen“.

Ein Spiel, um leben zu lernen

„Arbeit war in ‚Gaudiopolis‘ das unverzichtbare Werkzeug zur Bildung einer Gemeinschaft“, erzählt Andrasi. Es gab eine Schneiderwerkstatt, eine Schusterwerkstatt, eine Schlosserwerkstatt und eine Tischlerwerkstatt. Von Fachleuten lernten die Kinder, Gegenstände für den alltäglichen Gebrauch herzustellen und zu reparieren, wie abgenutzte Kleidungsstücke und Möbel. Spielzeuge und Christbaumschmuck wurden verkauft.

„Einerseits haben wir Kinder es als Spiel betrachtet, aber auf der anderen Seite gab es unserem Leben einen Rahmen“, erzählt Andrasi im Interview mit ORF.at. Jeder seiner Mitbewohner hatte seine Geschichte voller Ängste, Tragödien und Armut, und viele von ihnen wünschten diese zu vergessen: „Wir alle hatten die Sehnsucht nach etwas Positivem.“

Sztehlo folgte mit der Gründung von „Gaudiopolis“ einem reformpädagogischen Konzept: Das Ziel ist, die Gemeinschaft und Toleranz unter den Kindern zu stärken – unabhängig von ihren religiösen und sozialen Wurzeln. „In ‚Gaudiopolis‘ hatten alle die gleichen Rechte, jeder war auf die gleiche Weise verantwortlich“, erklärt Andrasi im Interview, „das war eine ganz andere Erfahrung im Vergleich zum früheren Leben.“

Erfahrungen, die ein Leben lang prägen

Als die Mutter 1949 verunglückte, kehrte Andrasi nach vier Jahren im Pax-Heim nach Hause zurück. Nur ein Jahr später wurden die Heime von den Kommunisten verstaatlicht. In seinem Tagebuch erinnert sich Sztehlo: „Eine schöne und lehrreiche Epoche meines Lebens war damit beendet. Ein Traum war ausgeträumt.“

Im Zuge der Revolution flüchteten seine Frau und seine Kinder 1956 in die Schweiz. Sztehlo konnte ihnen erst fünf Jahre später folgen. Bis zu seinem Tod 1974 soll er Kontakt zu seinen ehemaligen Schützlingen gehalten haben. Im Jahr 1972 wurde Sztehlo als einer der ersten Ungarn in die Liste der „Gerechten“ von Jad Vaschem aufgenommen.

Andrasi lebt heute in Budapest und ist Gründungsmitglied der Gabor Sztehlo Foundation. Die Erfahrungen in „Gaudiopolis“ prägten ihn ein Leben lang. Eine der wichtigsten Botschaften, die er von Sztehlo gelernt habe, sei „die Ablehnung jeglicher Art von Diskriminierung von Menschen, sei es aufgrund ihrer Religion, Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Alters“.

Quelle: ORF.at (Redaktion) Foto: Andor Andrasi