Birte Lindtstaedt engagiert sich mit ihrer Geige für jüdisches Leben in Deutschland und gegen das Vergessen.

LÜDENSCHEID + Antisemitismus ist gerade in den letzten Jahren in Deutschland wieder ein Thema. Man denke nur an Halle, an brennende Synagogen oder Angriffe auf Juden auf offener Straße. Viele Juden in Deutschland haben 80 Jahre nach dem Holocaust wieder Angst, sich in unserer Gesellschaft als solche zu bekennen.

Es gibt in Deutschland jedoch auch Menschen, die gegen den neu erstarkenden Antisemitismus aufstehen. Ihn aufdecken und mahnen, wann immer es möglich ist. „Gegen das Vergessen“ ist eine deutschlandweite Bewegung derer, die sich auflehnen gegen Judenfeindlichkeit, indem sie dafür einstehen, dass niemals vergessen wird, was einst auf deutschem Boden möglich war. Nicht, um mit dem moralischen Zeigefinger auf andere zu zeigen, sondern um den besorgniserregenden Anfängen zu wehren, die in unserer Gesellschaft gerade wieder Wurzeln schlagen.

Dazu gehören Aktionen wie Mahnwachen, die Gedenkzellen in Lüdenscheid, die Stolpersteine im gesamten Märkischen Kreis, die gerade erst in Hagen verlegt wurden. Zudem jährliche Veranstaltungen am Auschwitz-Tag, Benefiz-Veranstaltungen, Gedenktage und vor allem tiefe Freundschaften, die sie zu jüdischen Menschen in Deutschland pflegen.

Eine derjenigen, die sich im Märkischen Kreis besonders einsetzt stammt aus Halver-Oberbrügge. Birte Lindtstaedt ist Mutter von sieben Kindern, Musikerin und engagierte Christin, die man, mittlerweile weit über den MK hinaus, immer da findet, wo es gilt, sich gegen Judenhass zu engagieren. Lernt man sie kennen, vermutet man zunächst nicht, dass in ihrer eher zarten und elfenhaften Gestalt der Willen und die Kraft stecken, sich so konstant gegen das Vergessen zu stemmen. Lernt man sie näher kennen, belehrt sie ihr Gegenüber schnell eines Besseren.

Sie hat Feuer, spielt mehrere Instrument und singt. Wer sie Geige spielen hört, kann sich Birte Lindtstaedts so ganz eigenem Zauber schwer entziehen. Da spielt jemand mit dem Herzen. Das berührt. Sie setzt ihr musikalisches Talent gezielt ein, um etwas zu bewegen. Mit dem unbedingten Willen, nichts einfach wieder so geschehen zu lassen.

Wie kommt eine siebenfache Mutter und Musikerin dazu, sich gegen Judenfeindlichkeit und für eine gute Beziehung zwischen Israel und Deutschland zu engagieren?

Sie erzählt: 

„Ich wollte von Anfang an eine Großfamilie. Da ich immer gerade ein Baby auf dem Arm hatte, hat meine Musik erst einmal lange pausiert. An so etwas wie „Israel“ war da ebenfalls noch gar nicht zu denken. Das hat sich erst nach und nach entwickelt. Ich komme aus einer christlichen Familie, die sich schon wegen der biblischen Inhalte immer für Israel und jüdisches Leben interessiert hat. Mein Vater war sicher sechs Mal in Israel. Ein echter Fan. 2016 hat er meine Schwester und mich eingeladen, ihn zu begleiten. Dort zu sein und den Überlebenden des Holocaust und ihren Nachkommen so ganz direkt zu begegnen, hat in mir etwas ausgelöst. Wenn Du in Israel bist, begegnest Du nicht nur der jüdischen sondern auch der deutschen Geschichte auf Schritt und Tritt. Israel ist aus dem Holocaust heraus entstanden. Und der ist unvergessen. Yad Vashem (jüdische Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem) zu besuchen, war für mich zudem ein einschneidendes Erlebnis.

Ich habe in Israel manchmal einfach an besonderen Plätzen für mich allein Geige gespielt, um die Eindrücke zu verarbeiten und Gott für die vielen Wunder zu danken, die er dort vor Ort tut. Und mir wurde ganz neu bewusst, dass Jesus ja auch Jude war. Was wir als Christen oft vergessen.“

In Israel zu sein und den Überlebenden des Holocaust und ihren Nachkommen so ganz direkt zu begegnen, hat in mir etwas ausgelöst.“ (Foto: Iris Kannenberg)Not-Gottes Kapelle, Lobetal, Lüdenscheid

2016 spielte Birte Lindtstaedt noch Geige in einer Band. Mit dieser Band machte sie in diesem Jahr eine „Gefängnistournee“ durch Polen. Sie traten gemeinsam in polnischen Gefängnissen auf, erzählten von Glauben, Liebe und Hoffnung und knüpften fast nebenbei viele Kontakte zu den Einheimischen. Sie besuchten in diesem Rahmen auch Auschwitz und Birte sah sich das zweite Mal in einem Jahr mit dem Holocaust ganz direkt und schonungslos konfrontiert. In all seinen unfassbaren Ausmaßen. Ein einschneidendes Jahr, das vieles in Birte Lindtstaedts Leben veränderte.

2021 fuhr sie ein zweites Mal nach Auschwitz. Sie sagt: „Beim zweiten Mal habe ich Auschwitz noch einmal anders erlebt. Viel mehr auf die Jetztzeit bezogen. Und begriffen: 70 Prozent aller Menschen, die dort angekommen sind, sind direkt in den Gaskammern getötet worden. Man muss sich vorstellen, dass Auschwitz eine Menschenverarbeitungs-Fabrik war. Haare, Zähne, Haut, Knochen – alles wurde weiter verarbeitet. Daraus wurden Dinge wie Seife oder Knöpfe gemacht. Lampenschirme und vieles, vieles mehr. Wenn man die Zeit zugrunde legt, in der das Lager existierte, ist dort alle 1,41 Minuten ein Mensch getötet worden. Mich hat das zutiefst getroffen.

In den letzten fünf Jahren ist um Birte Lindtstaedt herum viel passiert. Mittlerweile gibt es eine ganze Gruppe von Menschen im MK, die sich aktiv daran beteiligt, dass Auschwitz nicht in Vergessenheit gerät. Mit ihnen ist sie immer wieder unterwegs und sorgt für musikalische Unterstützung. Sie erzählt von vielen wunderbaren Begegnungen, tollen Veranstaltungen und einer zweiten Reise nach Israel. Mittlerweile spricht sie gut Hebräisch und kann sich mit den Einheimischen in ihrer Landessprache unterhalten.

Ihre Liebe zu den jüdischen Menschen kostet jedoch auch Kraft. Nicht jeder wolle erinnert werden. Nicht jeder sei dem heutigen Staat Israel zugetan. Es komme daher auch zu Druck und Anfeindungen, denen man gewachsen sein muss.

Birte Lindtstaedt zieht es oft mit ihrer Geige an ruhige Plätze. Dort tankt sie in der Ruhe auf, freut sich aber auch über zwanglose Begegnungen, die dadurch entstehen, dass Menschen einfach stehen bleiben und zuhören, wenn sie spielt. „Wenn ich Menschen nicht direkt begegnen kann, gehe ich an die Orte, die immer noch an jüdisches Leben in Deutschland erinnern und mache dort Musik. Z.B. auf jüdischen Friedhöfen, in den Gedenkzellen, an Stolpersteinen oder Gedenkstätten. Wenn ich dort Geige spiele, kommen die Menschen manchmal direkt auf mich zu, stellen Fragen und werden so für das Thema sensibilisiert.

Oft zieht es sie an ruhige Plätze. Dort tankt sie in der Ruhe auf, spielt ihre Geige und freut sich über zwanglose Begegnungen. (Foto: Iris Kannenberg)

Es ist wichtig, gerade jetzt klare Stellung zu beziehen und sich nicht einschüchtern zu lassen. Wir müssen aufwachen und begreifen, dass so etwas immer wieder passieren kann. Wir dürfen nicht vergessen, sondern sollten die Gründe für den Holocaust ans Licht bringen. Was kann ein ganzes Volk dazu bewegen, so etwas Unvorstellbares mitzutragen, statt sich dagegen aufzulehnen? Was passiert in solchen Situationen genau? Was sind die Wurzeln?

Sie selbst werde – so erzählt Birgit Lindtstaedt – sehr durch ihre Familie getragen. Ihr Mann unterstütze sie, wo es nur geht. Ohne diese Unterstützung ließe sich ihr Engagement für eine gute Beziehung zwischen Israel und Deutschland und „gegen das Vergessen“ schwer aufrechterhalten und in dieser Art leben.

Ich hoffe, damit einen kleinen Beitrag zu leisten, Auschwitz nie mehr möglich zu machen. Keine leichte Aufgabe und doch bin ich mir sicher: Solange es noch „Rufer in der Wüste“ gibt, solange besteht die Hoffnung, dass Menschen etwas daraus gelernt haben und sich erinnern wollen. Denn nur wenn wir uns dem Thema Antisemitismus und unserer Vergangenheit auch heute noch aktiv stellen, können wir etwas bewegen und verhindern, dass sich so etwas erneut in Deutschland positioniert. Wir sollten wachsam sein und uns aktiv mit der Vergangenheit konfrontieren, auch wenn es weh tut. Auschwitz ist real. Jeder kann es besuchen und sich selbst davon überzeugen, zu welchen Taten Menschen fähig sind. Daher bleiben wir wachsam und mahnend, in der Hoffnung, damit Herzen bewegen zu können. Immer wieder und gegen das Vergessen.

Von Iris Kannenberg, Lüdenscheid Quelle: EV. Kirchenkreis Lüdenscheid